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:/ Fluchtpunkte

Fluchtpunkte

eine erzählung = [expose:]

Ort und Zeit: Hongkong und Bangkok, Februar bis Mai

Erzählperspektive: aus Sicht des Protagonisten

Erzählweise: Ich-Erzähler

Der namenlose Protagonist erreicht Hongkong. Die ersten Tage wohnt er bei einem Bekannten Li. Vor Hongkong hatte der Protagonist in Moskau gelebt, wo er sich mit kleinen Arbeiten und Botengängen über Wasser gehalten hatte. Er musste dort wegziehen, weil er zusehends in dubiosen Kreisen verkehrte und in obskure Machenschaften hineingezogen worden war. Er versteckt sich in Lis Wohnung. Nach wenigen Tagen kommt es zum Bruch zwischen den beiden. Der Protagonist zieht aus und quartiert sich in einem Hostel/Hotel ein. Er beginnt nun mit dem Versuch, sich nicht länger verstecken und sich in Hongkong einleben zu wollen, wie er es bereits in vielen Städten gemacht hatte. Bevor er nach Hongkong gekommen war, lebte er längere Zeit in Moskau, London und Paris. In Hongkong lernt er allerdings langsamer als sonst neue Menschen kennen. Er begegnet per Zufall Jonathan, mit dem ihn die Freude an Büchern verbindet. Kurze Zeit später lernt er Dave kennen. Dave arbeitet als Werber für einen Reiseveranstalter, verteilt Flyer und verkauft Leuten auf der Straße Reisen zu den nahegelegenen Inseln, nach Macau und nach Shenzhen. Die beiden verstehen sich gut und der Protagonist ist anfänglich von der Art Daves fasziniert. Sie treffen sich nahezu täglich und treiben sich üblicherweise in billigen Kneipen und Restaurants umher. Während Dave unbekümmert lebt, tut sich der Protagonist immer schwerer mit Daves offensiver Art. Einen Abend sitzen sie in einer Bar in einem besseren Viertel von Hongkong. Dort trifft der Protagonist zum ersten Mal Rachel. Während er mit Rachel mehr und mehr Zeit verbringt und sich in sie verliebt, lebt er sich in gleichem Zuge mit Dave ein Stück weit auseinander. Sie unternehmen immer weniger zusammen und Dave vertreibt sich die Zeit in Massagesalons und zwielichtigen Etablissements im Rotlichtviertel Hongkongs. Als die beiden sich nach längerer Zeit wiedertreffen, gesteht Dave ihm den Mord an einer Frau, die in einem Massagesalon arbeitete. Gemeinsam versuchen Dave und er einen Ausweg zu finden, doch Dave verfällt in Lethargie und ergibt sich in die Auswegslosigkeit der Situation. Der Protagonist kann ihm nicht helfen und flieht wegen seiner Angst aus Hongkong. Er geht nach Singapur und reist später nach Bangkok. Wenige Tage nach seiner Ankunft in Bangkok beginnt er wie bereits in Hongkong sich einzuleben. Es fällt ihm sehr schwer, denn in diesen Tagen herrschen Unruhen und Kämpfe zwischen Regierung und Opposition. überall in der Stadt trifft er auf Demonstrationen, Straßenbarrikaden und Polizeikontrollen. Er weiß nicht, wie er aus der Stadt fliehen kann. Der Flughafen und der Bahnhof werden von Polizei und Soldaten abgeriegelt und kontrolliert. Seine Angst vor der Polizei und den Kontrollen wird immer größer, weil er sich zudem mittlerweile illegal in Thailand aufhält. Er ist gefangen in der Stadt. Er wünscht sich nur noch, dass seine Flucht ein Ende finden soll. Von Tag zu Tag fällt es ihm schwerer zu überleben, ihm mangelt an allem: Geld, Essen, Trinken und Alkohol. Er beginnt auf den Märkten Bangkoks zu betteln und Lebensmittel zu stehlen, immer in der Angst vor der Polizei oder von den Standbesitzern erwischt zu werden. Einen Abend, als er sich wieder auf den Märkten herumtreibt und stiehlt, erwischen ihn dabei drei Männer. Sie verfolgen ihn und treiben ihn durch die Straßen und Gassen von Bangkoks Altstadt und treiben ihn weiter zum Fluss, der durch Bangkok fließt. Sie lassen nicht von ihm ab und er stürzt in den Fluss. So endet seine Flucht.

[auszug: seite 1]

Hongkong; die hohen Gebäude der Stadt verhindern den Blick auf die Zukunft. Einmal wird mir die Flucht noch gelingen. Jedoch wird man es erst wissen, wenn man von hier weggegangen und woanders angekommen sein wird. Man weiß es erst, wenn man woanders gestorben sein wird. Solange man sich in der Stadt aufhält, spürt man diese Freiheit nicht. Man fühlt sich eingeengt und angestoßen. Nur wenige Stunden zuvor war ich in Hongkong angekommen, ohne Vorwarnung und ohne jegliche Vorbereitung. Vielleicht sollte ich die Gründe, dass ich nach Hongkong kommen musste, als Zufall abtun und nicht weiter darüber nachdenken. Doch als ich zwischen den Wolkenkratzern und Hochäusern stand, fühlte ich mich gehetzt und fremd. Nur langsam konnte ich diese Gefühle ablegen, zurück blieb jedoch das Empfinden der Enge, gleich einer Verwirrung. Gefangen im Drei-Ebenen-System. Beim Blick schräg von oben ein Schachtellabyrinth. Gefangen in den Schichten der Connaught Road, dort, wo diese in die Harcourt Road übergeht. Schnellstraßen sich kreuzend und überspringend, darüber Fußgängerbrücken und -übergänge. Darunter eine weitere Straße und noch tiefer die Kanalisation mit verschachtelten Röhren. Fiebrig wanderte der Blick, hastig, hektisch, nervös. Verborgen und verirrt im Mehr-Ebenen-System der Canal Road East, Queens Road und Gloucester Road. Auch hier Schnellstraßen und Zubringer, Tunnel, Übergänge, Brücken mit Fenstern und Straßen, die in Häuserfassaden zu verschwinden scheinen. Zu Beginn war es spannend und eindrücklich, durch die Straßen Hongkongs zu irren, sich mit Absicht verlaufen zu wollen. Damals noch nach links und nach rechts schauend, bis man sich an die Flussrichtung des Verkehrs gewöhnt hätte, anschließend nach rechts, nach links schauend, bevor man die Straßen überquerte. Die eigenen Bewegungen allerdings ohne Hast, ohne Angst, schien es doch unmöglich, in der Stadt verloren zu gehen, grob betrachtet war sie begrenzt durch das Meer und nach Norden hin durch die New Territories, dahinter lag China. Und die meisten Straßen verliefen wie Planquadrate, dreimal die gleiche Richtung eingeschlagen und abgebogen und man näherte sich dem Ausgangspunkt. Man musste keine Angst hegen und so konnte man ohne Eile den großen Straßen folgen, um von dort in die eine oder andere Richtung abzubiegen und Neues in den Gassen zu suchen. Lediglich der Blick hastend. Wenige Tage erst war ich in Hongkong, aber dauernd behauptete ich, dass ich diese und jene Ecke bereits kannte. Die Enge und die Fremde sollten mich später umarmen. […]

[auszug: seite 59 – 61]

Wir stiegen den Touristinnen hinterher, Ausschau haltend, ob man zwei gemeinsam entlanggehen sah. Zwei waren am einfachsten. Daves eigene Theorie war, dass sie (wenn mit einer Freundin gemeinsam gereist wurde) sich gerade getrennt hätte und die zweite nur Anfang oder Unterstützung war oder sie wären schlicht in einer Beziehung sich befindend mit einer ihrer Freundinnen in den Urlaub gefahren und man konnte sich gewiss sein, dass Zuhausegebliebene von nichts erführen. Zudem sei es ihm egal, lachte Dave. Anfänglich war mir unwohl zumute, hörte ich ihn so reden, doch seine Worte waren ein Fluss und höhlten mich aus. Und wenn man die Schenkel auseinander bog und sich versenkte, waren vorausgegangene, beklemmende Überlegungen passé. Doch ich stellte mich unbedarft an. Oft lachten sie mich aus oder schoben mich mit verächtlichem Lächeln zur Seite und gingen weiter. Dagegen war Dave besser im Agieren und Parlieren und die Mädchen, welche kurz zuvor mich noch ignoriert hatten, vielleicht beim Hinfortgehen noch ein oder zweimal umgedreht und wohl gelästert hatten, verzogen keine Braue, als Dave mich vorstellte; sie ließen sich anstandslos ficken. Und am nächsten Tag: erneuter Nullpunkt. Wir waren verkommen. Ich mehr als Dave, denn er tat alles ohne nachzudenken, ich dagegen spürte meinen Kopf noch in selbigem Moment kämpfen und alle Zweifel musste ich wie trockene Mehlklöße hinunterwürgen.

25.03.

Razzia im Chungking Mansion. Jeder wurde kontrolliert. Die Polizei fragte nach Reisepässen. Angst wegen meines halblegalen Passes. Sie akzeptierten ihn. Fragten mich, was ich täte. Antwortete knapp Urlaub. Sie fragten nicht weiter. Stempel wurden auf Handrücken gedrückt. Gingen später von Block zu Block, jede Etage, Zimmer für Zimmer im Labyrinth. Klopften an meine Tür. Es reichte, den Stempel zu zeigen. Ruppiger Ton. Sagten dennoch Danke. Was sagen sie wohl zu denen, die keinen Stempel und keinen Pass hatten?

 

Immer öfter gingen wir auch in Mong Kok umher. Kleine Kaschemmen, Absteigen und von außen nicht erkennbare Freudenhäuser. Massagesalons, Bars, wo man zwei Getränke bekommen konnte, dann jedoch gebeten wurde zu gehen, oder gegenteilig, nicht vor dem Morgengrauen verließ. Eine Schwarz-Weiß-Welt. Was suchten wir dort? Dave machte ein Geheimnis darum. Wir verabredeten uns gegen Abend an der MRT-Station und streunten wie Kater herum. Bute Street zur Nathan Road, diese hinunter und in die Mong Kok Road. Enger werdende Kreise, ausufernde Bahnen. Eingebettet in Hochhäuser, ab deren ersten Etagen mit Bambusstangen auf die Straße gereichte Werbetafeln, Schriftzüge mit chinesischen Langzeichen oder einfarbige Fahnen und Tücher sich wie ein Geflecht vor den Himmel schob. Marktstände ragten bis in die ersten Etagen hinauf, Häuserfassaden spielten Verstecken. Oft saßen wir an kleinen Tischen kleiner Restaurants an kleinen Ecken und tranken Tee bis in den Abend, bis unsere Mägen schmerzten. Hunger. Geld verwendeten wir lediglich am Abend, etwas Essen, Bier und Schnaps (Baijiu), schwarzen Tabak.

26.03.

Gelbes Huhn mit Reis. Grünes Gemüse dazu. Congee mit Pilzen. Dave aß unter Ekel Reis mit Ochsenbrust. Dave konfabulierte über Weihnachtsessen bei seinen Großeltern in Redcliffe. Honigschinken, Kürbis und Kartoffeln, Plumpudding, Ingwerplätzchen. Hätten wir mehr Geld, würden wir in Soho oder in Wanchai in ein europäisches oder amerikanisches Restaurant gehen. Truthahn aus dem Ofen mit Gemüse und Kartoffeln. Endlich wieder etwas, was auf der Zunge liegend uns erinnern ließ.

 

Unter knurrendem Magen wussten wir, dass wir an ein Ende gekommen waren. Wir waren zu Tieren verkommen. Den ganzen Tag herumlungern und auf das Fressen lauern, es hinunterschlingen und wenn die Eingeweide beruhigt worden waren, vagabundierten wir, warteten auf jemanden, auf den man sich stürzen konnte; Speichel troff uns vom Zahn. Hündisch. Gesichter zu Grimassen verkommen, hinter denen kein Gedanke und kein Gefühl mehr wartete, innerlich waren wir blind geworden. Die einzige Erkenntnis: dass es dazu gekommen ist. Und dann zerbrach alles.

Kowloon breitete sich aus. Landgewinnungsmaßnahmen. Bereits seit 1887. In wenigen Wochen vielleicht das höchste Gebäude in Kowloon und nicht mehr das 2 IFC, The Shaver, auf Hongkong Island. Oder ist das in Kowloon bereits fertig gestellt? Und in wenigen Jahren wird ein neues höchstes Gebäude errichtet worden sein.

Hinter uns stand ein englisches Pärchen. Ungleiches Alter. Eine Kluft von zwanzig Jahren musste zwischen den beiden bestehen. Er sah alt aus, krank, sein Gesicht mit großen weißen Flecken überzogen, das Haar so dünn, dass die fettige Kopfhaut durchschimmerte, auch sie meliert. Mit Fingerzeig auf die Baustellen in Kowloon lehrte er sie, dass er vor wenigen Jahren schon einmal hier gewesen wäre und dass diese und jene Gebäude noch nicht gestanden hatten, andere dafür, welche abgerissen und auf deren schütteren Überresten längst die Fundamente der neuen gegossen worden waren. Sie nickte beflissentlich, eine beschwichtigende Geste, dazu ein weit geöffneter Mund, rund gemachte Augen. Glaubte sie ihm? Glaubte sie ihm, dass er vor wenigen Jahren schon mal hier gewesen sein mochte? Beides waren Lügner. […]